Wenn ich Nation schreibe, meine ich in diesem Fall meinen Geist. Es handelt sich hierbei um ein Schreiben, dass ich für meine engsten Freunde (vor allem ehemalige Mitbewohner, wie ihr merken werdet) verfasst habe, damit sie mich besser verstehen können. Ich möchte es gerne mit euch teilen, zumindest in Auszügen. Es handelt sich hierbei um einen etwas längeren Text, aber auch nicht zu lang. Achtung, dieser Text enthält teils sehr vulgäre Sprache.

Mit den Ich-Versionen sind vergangene Versionen meiner selbst gemeint. Also eigentlich meine gesamte Vergangenheit.

Los geht’s!

 

Das mit der Depression mag nun einige von euch schwer überraschen, andere wissen bereits Bescheid. Ich bleibe bei der geläufigen Beschreibung „Depression“, um euch anhand dieser zu zeigen, wie meine vergangenen Ich-Versionen von ihr zerfressen und als Leichenteile überall in meinem Kopf zurückgelassen wurden, somit für mich sichtbar, aber eben unerreichbar, da tot. Einige von Euch kennen mich immerhin schon über zwei Jahre, in einem Menschenleben gar nicht mal so wenig. Genug auf jeden Fall, um bei häufigem Umgang mehr als nur die Oberfläche eines Menschen kennenzulernen. Ihr kennt mich also, oder besser, in weiten Teilen kanntet Ihr mich. Ich möchte nicht zu viele Worte über mich nach dem Abitur und zu Beginn des Studiums verlieren, also die Zeit, in der wir uns zum ersten Mal trafen und in der ihr das erste Mal eine meiner Ich-Versionen erlebt habt. Ich war zwar schon immer etwas lernfaul, was auch daran lag, dass ich in meinen Paradefächern kaum lernen zu brauchte, um gute Ergebnisse zu erzielen. Jaja, ich Angeber, ist aber wahr! Politisches Interesse und ständig bereit für eine nächtliche Diskussion mit drei Promille, dazu unerhörtes Detailwissen in bestimmten historischen Bereichen. War da sonst noch was nennenswertes? Achja, ich hätte ma liebsten sofort die sozialistische Weltrevolution gestartet und hatte einen bösen Humor. Keine Sorge, die beiden letzten Sachen treffen immer noch zu. Obwohl, bei der Revolution läge es aktuell wohl an der Tagesverfassung ob ich meine zwei Quadratmeter Komfortzone namens Bett verlasse. Depressiver Sozialismus? Ich melde Patent an, bestimmt haben sich schon viele Sozialisten wegen mangelnden Glaubens an die Menschheit und dem allgemeinen Weltschmerz das Leben genommen. Klingt jetzt ziemlich nach Alles oder Nichts, da muss ich nochmal drüber sinnieren, ihr Kapitalistenschweine. So viel mal dazu, viele vergangene Ich-Versionen die also zusammen ein vergangenes Gesamt-Ich ergeben. Hä? Egal, ihr wisst schon.

Ich kann keinen genauen Tag, keinen exakten Grund nennen. Irgendwann setzte ein Prozess ein, den ich lange selbst nicht bemerkt habe. Die ersten Male an denen ich merkte, dass etwas anders war, müssen so um die Jahreswende herum gewesen sein. Das waren aber Symptome die man rückblickend wohl schon als mittlere Depression beschreiben könnte, also liegt der Beginn noch etwas weiter zurück. Egal. Auf jeden Fall waren die Symptome da, und ich habe sie langsam bemerkt. Eine kurze, medizinisch korrekte Auflistung in der garantiert wichtige Sachen fehlen: Schlafprobleme, Antriebslosigkeit, chronische Müdigkeit über den ganzen Tag, Grübelattacken, negative Besetzung fast aller Gedanken, Interessenlosigkeit und dazu noch Vergesslichkeit, deswegen fehlen hier ja auch einige Punkte. Wie sich diese Dinge im Alltag bemerkbar machen? Stellt euch vor, ihr schlaft fast jede Nacht, egal ob voll wie 1000 Russen oder nüchterner als Adolf Hitler,  erst zwischen drei und fünf Uhr morgens ein, wacht aber schon um acht oder neun Uhr wieder auf. Ihr liegt stundenlang wach, kommt nicht aus dem Gedankenkreisel raus und seid eh schon total gerädert. Jetzt ist es schon zwölf, dann ist es eins. Ihr hört die anderen Leute seit Stunden auf der Treppe rauf und runter laufen und macht euch selbst Vorwürfe, dass euch das Leben total entgleist. Noch schlimmer: Eigentlich liegt der Schulz.. äähm der Lebenszug schon lichterloh brennend im Graben. Um zwei dann zum ersten Mal aufstehen, ob Uni ist oder nicht – mittlerweile auch egal. Der Weg zur Dusche ist wie ein walk of shame auf den mount Everest. Die Angst davor, auf jemanden zu treffen, der vielleicht eine spöttische Bermerkung ob der späten Uhrzeit macht, dazu die generelle Lustlosigkeit. Danach wieder ins Bett fallen, dann essen, wieder ins Bett. Das Zimmer abgedunkelt, denn die Sonne brennt und hindert am vegetieren, ihr wollt aber vegetieren, denn ihr habt keine Helligkeit verdient und die Sonne scheint euch auszulachen. Eine Art von Vampirismus, nur abends aktiv werden aber statt Blut lieber Bier saugen, schmeckt besser. Völlig betrunken ins Bett fallen und das selbe Spiel am nächsten Tag, mal nüchtern, häufig besoffen und verkatert, Charles Bukowski zu Hochzeiten.

Jaja der Alkohol, er verschuf mir ein paar freie Stunden, frei von den Gedanken, die mich den ganzen Tag schon quälten und mich nachts wachhielten. Nach dem Suff ist aber nicht vor dem Suff, was folgt ist ein tiefes Loch. Was mir einige Stunden Ruhe brachte sorgte später dafür, dass alles noch viel schlimmer über mir hereinbrach. Polnische Abgänge haben wir es genannt, sie kamen immer häufiger, da ich die Gedanken multipliziert mit Alkohol in der Birne nicht ertragen konnte. Selbstmordgedanken. Selbstmord ist ein blöder Begriff, Freitod gefällt mir besser. Wenn dir der Tod als endgültige Freiheit erscheint, dann sagt dir spätestens der Therapeut, dass du ein ernstes Problem hast, wenn du denn soweit kommst. Ich bin soweit gekommen, von Glück kann ich aber noch lange nicht reden. Naja. Freitodgedanken also. Die kamen dann auch irgendwann. Erst einfach, sowas wie Pulsader durchtrennen mit der Scherbe da auf dem Boden oder von einer der Brücken in den Rhein springen. Später dann komplexer, die Methoden wurden ausgefeilter. Ich möchte diese Methoden hier jetzt nicht genau beschreiben, das ist eine Facette die ich mir lieber für Profis aufhebe, nichts für ungut Leute.

Ich spanne euch mal wieder vor den depressiven Karren. Ihr merkt nun also langsam, dass sich euer Zustand immer weiter verschlechtert. Körperliche Zusammenbrüche, ständige Niedergeschlagenheit, immer übler werdende Gedankenspiele über Leben und Tod. Währenddessen muss aber die Fassade gewahrt werden, die nach außen alles normal erscheinen lässt. Das raubt euch die letzte Energie, die verblieben ist. Ihr sucht euch aus den Leichenteilen eurer alten Ich-Versionen die passenden Gliedmaßen zusammen und erschafft eine Art Frankenstein-Version von euch, welche ihr noch hübsch einpackt und in einsamen Stunden schön in die Kühltruhe legt, damit es nicht anfängt zu stinken. Fertig ist die Fassade, nach außen gut getarnt aber nach innen kaum dicker als ein Blatt Papier. Eine unvorteilhafte Membram, welche zwar das innere der Zelle vor neugierigen Blicken schützt und kaum etwas raus lässt, aber nicht vor Einflüssen wie Worten oder Taten bewahrt. Sie dringen durch und verfehlen, meist unnötig negativ behaftet, nie ihr Ziel, nämlich das verletztliche Häufchen Elend, welches sich zitternd wie einer dieser kleinen fehlgezüchteten Handtaschenköter in der endlosen Weite deines Hirns aufhält. Dieses Häufchen Elend bist Du. Wie die Köter, sollte es dich eigentlich gar nicht geben. Du weißt nicht woher du kommst, was du da machst und wohin es gehen soll. Das nennt sich dann Hoffnungslosigkeit oder Perspektivlosigkeit, kann mensch sich aussuchen. Der nächste gefährliche Schritt in der Negativspirale. Jetzt sieht man nichtmal den Anfang der Spirale mehr, aber dafür das Ende. Ein schwarzes Loch, welches schon fleißig deine noch lebendigen Ich-Versionen aufsaugt, die panisch kreischend an dir vorbeisausen. Der Höllenschlund kommt näher. Was ist das Fegefeuer?

Leere. Die Leere ist das schlimmste. Wenn du da angekommen bist, weißt du, dass der Tod hinter der dich seltsam anziehenden Tür dicht vor dir auf dich wartet. Tut mir Leid, dass ich so dramatisch werde, aber ich bin grad total im Fluss und meine abstruse Gedankenwelt übernimmt die Kontrolle, so what. Innere Leere ist das persönliche Fegefeuer. Irgendwo weit entfernt hörst du die sanften Klänge des Lebens, deutlich näher jedoch scheint das Getöse des Abgrunds. Wenn dir eigentlich alles egal ist, du nichts fühlen kannst außer vielleicht körperlichen Schmerz, welcher dich selbst noch gerade so lebendig fühlen lässt, dann bist du auf gut deutsch tendenziell gefickt. Und zwar mit Anlauf. Eigentlich fickt man sich ja dann irgendwie selbst, oder? Eine große Orgie der Ich-Versionen, wie bei „das Parfum“ am Ende, toller Film. Das Kopfkino ist übrigens gratis, ihr wisst ja wie Popcorn schmeckt. Denkt ihr jetzt daran wie Popcorn schmeckt? Ich bin so gut. Wenn einer jetzt an salziges Popcorn gedacht hat: Raus!

 

Der Text findet natürlich noch ein passendes Ende, dieses ist aber nur für meine Freunde gedacht. Vielleicht können ja ein paar von euch etwas mit meinem Geschwurbel anfangen.

Bis neulich

Tanne