Ich glaube, dass viele von euch diese Geschichte bereits kennen. Mich erfüllt sie jedes Jahr wieder mit einem angenehmen Gefühl der Menschlichkeit. Eine wahre Geschichte, die Hoffnung spendete und immer noch spendet, angesichts grausamer Gewalt auf und neben den Schlachtfeldern dieser Erde. Ein warmer Funken Hoffnung, der für kurze Zeit die abstumpfenden Seelen von tausenden Soldaten neu entflammen lies. Es handelt sich natürlich um den legendären Weihnachtsfrieden von 1914.

In Europa tobt nun seit über vier Monaten der erste Weltkrieg. Hunderttausende sind gefallen. In Belgien und Frankreich hat bereits der menschenfressende Stellungskrieg die Kontrolle über das militärische Handeln übernommen. Sturmangriffe gegen Maschinengewehre, um wenige Meter Boden zu gewinnen. Boden, der die Bezeichnung eigentlich nicht mehr verdient. Zerpflügt von Artillerie und übersäht mit den Leichen vieler Söhne, deren Eltern vergeblich auf ein Weihnachtswunder hoffen. „Niemandsland“ ist die gängige Bezeichnung für diesen Streifen Erde, oder auch „Todeszone“. Das trifft es besser. Ich würde eine Mischung aus beiden Begriffen vorschlagen: „Das Land der Toten“.

Was die Soldaten seit Monaten erleben mussten, ist aus heutiger Sicht wohl kaum zu begreifen. Wie konnten sich die gequälten Männer zwischen Dreck, Tod und Leid ihre Menschlichkeit bewahren? Anders wäre das Weihnachtswunder von 1914 gar nicht möglich gewesen. Es war ein reiner Akt der Menschlichkeit. Nicht nur das, es war eine Rebellion der Menschlichkeit gegen die Generalität, für die der Verlust von tausenden Leben nur eine Verschiebung auf der Karte bedeutete. Gegen die Offiziere, die aus falschem Pflichtbewusstsein immer neue Männer in das Land der Toten schickten. Gegen den Wahn der Nationalisten und Imperialisten, für die neue Eroberungen nur neue Gewinne bedeutete, egal wie hoch der Blutpreis dafür auch sein mochte. Gegen die überkommenen europäischen Monarchien, die längst nicht mehr, oder besser gesagt noch nie in der Lage waren die Interessen einer so breiten und dynamischen Gesellschaft zu verstehen oder gar zu verwirklichen.

An jenem heiligen Abend also stiegen die Männer aus ihren Gräben und betraten das Land der Toten. Diesmal jedoch unter ganz anderen Motiven und völlig ohne Zwang. Dazu verleitet haben die Weihnachtsbäume, welche der deutsche Kaiser extra zu Heiligabend an die Frontlinien schicken ließ, um die Moral zu stärken. Sie wurden von den Soldaten für die Franzosen, Belgier, Engländer, Schotten und diverse Kolonialtruppen gut sichtbar auf den Rändern der Schützengräben aufgestellt. Von beiden Seiten klang dazu weihnachtlicher Gesang gut hörbar über das Land der Toten hinweg und durchbrach so die traurige Stille. Erste Soldaten wagten vorsichtige Blicke hinüber zu der vermeintlich feindlichen Linie. Kommunikation über Rufe und Gestiken folgte. Dann brach sich endlich die Menschlichkeit auf beiden Seiten Bahn und die bis dahin verfeindeten Männer kamen aufeinander zu. Das Land der Toten wurde für etwa zwei Wochen zum Land der Lebenden, der lebendigsten aller Menschen dieser zwei Wochen.

Wein, Bier, Schnaps, Zigaretten und Lebensmittel aller Art wurden ausgetauscht, es wurde gemeinsam gesungen und gelacht. Fußballspiele wurden veranstaltet. Vollkommen surreal eigentlich, wenn mensch bedenkt, dass der Wettkampfcharakter sich nun von den tödlichen Schützengräben auf das friedliche Fußballfeld inmitten der Granattrichter verlagert hat. Adressen wurden ausgetauscht, um nach dem Krieg Kontakt halten zu können. Es entstanden Freundschaften an genau den Orten, an denen vorher nur der Hass regiert hatte. Eine kurze Feuerpause und ein Menschen verbindendes Fest reichten aus, um aus Todfeinden Freunde zu machen.

Doch die, die nicht von diesem Wunder erleuchtet wurden, waren gar nicht erfreut über diese Entwicklung. Beteiligte Offiziere wurden degradiert, einfache Soldaten wurden versetzt und durch neue ersetzt. Nach etwa zwei Wochen kam erneut der Feuerbefehl, und das töten ging weiter. Doch die Männer, die dieses Wunder erlebt haben, dürften es nie vergessen haben, egal wie lange sie danach noch fortlebten. Wer weiß, vielleicht haben sich ein paar wenige dieser Freundschaften tatsächlich auch nach dem Krieg erhalten? Eine schöne Vorstellung.

Auch im heutigen Europa können wir noch viel von diesen Männern lernen, auch wenn die meisten von uns sich im sicheren Zuhause und nicht im eisigen Schützengraben befinden. Das dringende Bedürfnis nach Menschlichkeit, welches die Soldaten veranlasste, sich den Befehlen zu widersetzen und die Menschen gegenüber nicht als Feinde, sondern eben als Menschen zu sehen ist beispielhaft und hat für mich nie seinen Glanz verloren. Ein Appell, der solange es Menschen gibt nachklingen wird und an den sich hoffentlich noch sehr lange erinnert wird. Fremdenhass, Nationalismus und Krieg haben in Europa und der ganzen Welt bereits zu viel Schaden angerichtet, als dass wir uns erneut wider besseren Wissens den Krakelern zuwenden könnten. Der stumme Protest von Heiligabend 1914 spendet mir Kraft, um gegen solche Entwicklungen zu kämpfen.

In diesem Sinne wünsche ich euch allen ein schönes, erholsames Weihnachtsfest 2017 mit euren Familien! Oder, je nachdem, ein fröhliches Korkenknallen!

Tanne